so steht es geschrieben: die eltern sie schenken dir leben 
 die liebe sie ist da himmelwärts die schützende hand brutwarm
 welche in jener nacht das jungfräuliche aus dem fluss fischte,
in den septemberschatten einer schwarzerle wickelte, da begann 
 das grünland zu sterneln. seitdem sind kratzdiestel und brennnessel 
 die funkelnden zacken einer krone auf dem haupt der ungeliebten
© Christin van Talis
(Preisgekröntes Gedicht der Anthologie-Buchausgabe 2015
der BIBLIOTHEK DEUTSCHSPRACHIGER GEDICHTE)
 
 
 
losgelöst
im mündungsbereich der gebärmutter
 eine liebe verloren ging. seitdem ist das
 alleinsein. der ordnung halber die nabelschnur
 durchtrennt - auch der rote faden versteckt
begrenzung und schmerz taugen nicht
 für freiheiten, wolkengewickelt nur
 der verrätselte mond vor dem fenster.
 er öffnet neugierige augen - flügel um
flügel ein lufträtsel im nachthimmel
 wo die luft dünn ist und die freiheit losgelöst
 mit der ungeliebten einsamkeit tanzt
© Christin van Talis
 
 
 
der flüchtling
ein mensch in not 
 nicht sehen wollen das 
 ist immer noch
irrläufe durch staaten
 übers wasser gehen neo-
 grenzüberschreitungen
ich will dich sehen dein 
 leid und leib umarmen 
 fremde worte mit dir
tauschen│das unsagbare
 tief unten im tal unserer
 ängste herausschreien
© Christin van Talis
 
 
unsere energie
das feuer der welt: holz, kohle, öl,
 die armen verbrennt, kern- und wind-
 energie die reichen wärmt. ohne holzhacken
 verdientes geld durch krieg. wer kriegt die macht,
 kinder arbeiten oder verhungern zu lassen?
© Christin van Talis
 
 
kostspieliger traum
nach der trennung ein fallen und
 ich halt’ noch das ende in den
 händen - eine abgeschnitten
nanoröhre│der fahrstuhl zum
 mond nur ein kostspieliger traum
 die erde (lieben) dreht sich nicht
 mehr um mich. ein fallen ins nichts
© Christin van Talis
 
 
milchgrund
der zauber deiner seele ein milchgrund
 wunsch und wirklichkeit der grundsatz. das
 alte land nicht gefunden. ein milchlicht
 bringt uns zurück ins paradies
im neuland am lagerfeuer 
 bin ich die eva, hüte deinen satz
 bereit, den gestrigen worten zu vergeben
© Christin van Talis
 
 
jeder garten eine kultstätte
süßgräser, sie wiegen sich im urbanen raum
 wiegten sich schon lange vor den menschen
 im wind. singende grashalme, filigrane
 rispen, die im getriebensein haltlos funkeln
am stadtrand die luft ungezähmt. vogelmännlich
 ein moai im grünen die bösen geister vertreibt
 die langohren hören schon lang nichts mehr | jeder
 garten eine kultstätte im erdofen der sonne
© Christin van Talis
 
 
drachenkind
du läufst mit dem winde im gras 
 lässt drachen steigen aus papier 
 die das leben einfangen, sich 
 im ersten lichtstrahl entflammen 
 um aus den träumen zu fallen 
am ende werden die nebel 
 steigen, dich in liebe hüllen 
 dein erdenleben wird schweigen 
 doch du bist immer noch sichtbar
deine worte wohnen in den wolken 
 und manchmal fallen sie 
 wie ein warmer regen vom himmel
© Christin van Talis
 
das zittern der erde ließ mich
 zur sonne aufsteigen. ich schmiegte mich
 in ihr langwellig licht – nun streuen wir
 gemeinsam und lassen den mond leuchten
kupferrot│die internationale raumstation ISS
 schwebte im erdschatten vorüber doch dein
 gesang wird zur erntezeit erblühen und er
 wird bleiben│ich werde ein sonnenstrahl
an deiner seite sein
© Christin van Talis